Achtzehntes Kapitel
Wenn man, von der Peripherie Italiens kommen, sich über Land Rom näherte, so begann man seine Ausstrahlung schon mehrere hundert Kilometer vorher zu spüren. Die Bauernhäuser hielten die Tore geschlossen, die Güter waren bewehrt, die Pferde in bewachten, verborgenen Arealen. Kurz vor Rom verwandelte sich das Bild gegen früher dann ganz stark. Hier heraus kamen schon die jungen weinseligen Römer zu Wagen oder in Karriere zu Pferde, fröhlich und beschäftigungslos, immer zu lustigen Streichen aufgelegt, bald Pferde kaschend, bald ein Mädchen reihum erlegend, bald die Truhen und Kästen inspizierende oder ein Scheunchen anzündend, dass es nur so prasselte. Die Bauern der Umgebung bildeten Schutztruppen, die am Abend und in der Nacht wachten.
Mit jedem Schritt näher an die Mauern der Stadt wuchs die Unsicherheit. Einbrüche, Diebstähle, Raubüberfälle waren an der Tagesordnung und entzogen sich längst der Zählung. Man war in Rom diesen Zustand so gewohnt, dass niemand mehr davon sprach. Bei dem Jähzorn, der vor allem bei den Halbwüchsigen fast immer eine Folgeerscheinung ihrer Immunität ist und große Ähnlichkeit mit einem Mini-Cäsarenwahnsinn hat, genügte schon ein scharfes Wort, ein schiefer Blick, um eine wilde Reaktion hervorzurufen. Die Straßen und Plätze waren zu allen Stunden voll von müßigen, sich langweilenden Jugendlichen und von Pöbel. Das Elternhaus wurde zur Tankstelle und menschlichen Garage.
Die Polizei trug ganz unnütz Tag um Tag Verbrecher jeden Alters zusammen; die Richter, von einem nicht mehr erklärbaren Wahn des Allesverstehens befallen, ließen die Verhafteten wieder frei, um die Menschenwürde nicht zu kränken. Sie hatten auch Angst, Angst vor der Rache an der Familie und Angst vor der „öffentlichen Meinung“ des Rinnsteins. Ädile, die eingriffen, wurden mit Steinen beworfen. Nicht die Gesetze bestimmten das Leben, sondern die augenblicklichen Zustände bestimmten die Rechtsprechung. Die Entscheidungen der Richter waren ein Hohn auf die Gesetze. Gerade die Älteren wetteiferten, einen Meter vor der Entwicklung zu marschieren.
Der Staat war der Feind des ehrlichen Bürgers geworden. Er honorierte Ordnung nicht mehr, er ließ dem Krankhaften allen Schutz angedeihen und nannte das human. Der Anständige war ihm als lebender Vorwurf suspekt und wurde diffamiert, um nicht zum Ankläger werden zu können. Die Staatskasse verschwendete die Steuergelder in die Unterhaltung der Volksluxusbäder und ernährte die Masse der untätigen Proletarier von der Wiege bis zur Bahre. Die Inflation griff rapide um sich. Ein Denar, längst nicht mehr aus Silber, hatte zur Zeit des Commodus wenigstens noch den Wert von einigen Pfennigen. Hundert Jahre genügten, um ihn zu einem tausendstel Teil sinken zu lassen. Der Staat gab dieses Schundgeld an die Beamten und Angestellten des ganzen Reiches aus und zwang sie, es zum Nennwert anzunehmen, lehnte aber selbst, sobald es zu ihm zurücklief, die Annahme als Falschgeld ab. Er war zum Verbrecher geworden. Geldgeschäfte ruhten bald vollständig, der Handel mit fremden Ländern hörte auf, Rom fiel auf die Stufe der Naturalienzahlungen zurück. Wer gutes, altes Geld hatte, versteckte es. Alles flüchtete in Sachwerte, in leicht transportable, in Gold, Perlen und Edelsteine.
Quelle:
Joachim Fernau
Cäsar lässt grüßen
Die Geschichte der Römer
Erschienen 1971 im Herbig-Verlag